Dass heute Dynamo-Fans in Tausenden Richtung Großer Garten strömen, um ihre Mannschaft bei einem Heimspiel zu unterstützen, war lange Zeit keine Selbstverständlichkeit. Im Gespräch mit dem DYNAMO-KREISEL blicken drei Vereinsvertreter darauf zurück, wie die Sportgemeinschaft zu ihrem neuen „Wohnzimmer“ kam.
Stell Dir vor, es ist Heimspiel. Aus dem Zentrum begibst Du Dich zum Bahnhof Neustadt, hinter dem Shuttlebusse auf Dich und die anderen Dynamo-Fans warten. Eng an eng quetscht Ihr Euch in einen schwarz-gelben Bus der DVB, bevor dieser auf die Hansastraße einbiegt. Vorbei am NH-Hotel, McDonald´s und den Tankstellen am Straßenrand geht es immer weiter Richtung Norden, bis das Gefährt kurz vor der Auffahrt Hellerau nach links in eine kleine Nebenstraße einbiegt. Eine Durchsage ertönt: „Hellerberge / Stadion – bitte alle aussteigen.“ Nacheinander drückt ihr euch auf die Straße in den Schatten einer modernen Arena. Im Hintergrund ist das Rauschen der Autobahn zu vernehmen. Vorbei an den Bierwägen – eine Kneipe sucht man hier vergeblich – schlängelst Du Dich zum K-Block-Eingang. Du wirfst noch einmal einen Blick ins Tal aufs Zentrum. Nach einer halben Stunde bist du endlich am neuen Rudolf-Harbig-Stadion angekommen.
Aus heutiger Sicht ein absurdes Szenario, das jedoch vor dem Stadionneubau ernsthaft debattiert wurde. Dabei war der Standort am Hellerberg, wo heute das Dresdner Verlagshaus seinen Platz hat, nicht einmal die schlechteste Lösung. Zwischenzeitlich standen das Heinz-Steyer-Stadion, Leipzig oder sogar Teplice als Heimspielstätten der Sportgemeinschaft Dynamo Dresden im Raum. Dass dies nicht so kam, hat Dynamo vor allem einer Personengruppe zu verdanken: Seinen Fans.
Als die SGD Anfang der 1990er Jahre den Sprung in die Bundesliga schaffte, war schnell klar, dass es ein neues Stadion brauchte. Damals stand Dresden sogar als WM-Standort für 2006 zur Debatte. In Orientierung an andere große Bundesliga-Klubs favorisierte man zu dieser Zeit den Stadtrand für einen Neubau. Logistisch nachvollziehbar: Man ist schnell auf der Autobahn, hat Platz für Parkflächen und kann einen Ablauf gewährleisten, der nicht allzu sehr in das Leben der übrigen Dresdnerinnen und Dresdner eingreift. „Aus Sicht von Organisation und Infrastruktur ist ein Stadion in der Innenstadt gar nicht so optimal“, weiß Dynamos Fanbeauftragter Marek Lange aus eigener Erfahrung zu berichten. Marek erlebte sein erstes Spiel 1986 gegen Bischofswerda, als Ralf Minge per Kopf zum 2:1-Endstand traf. Seither ist Dynamo für ihn und seine Freunde die lebensbestimmende Leidenschaft. „Wir haben uns früher jeden Tag im K-Block getroffen, dort nachts gefeiert. Das war damals alles frei zugänglich.“ Deswegen war dem Fan und Mitbegründer der Ultras Dynamo im Hinblick auf ein neues Stadion trotz der rationalen Beweggründe klar: „Wir gehen weder an den Stadtrand noch ins Gehege. Unser zu Hause ist an der Lennéstraße 12!“
Mit dem Lizenzentzug und dem damit verbundenen Abstieg von Dynamo war erstmal lange Ruhe rund um das Thema Stadionneubau. Der Standort am Hellerberg war damit auch Geschichte. 2002 fiel schließlich der Beschluss, dass im Ostragehege Dresdens Sportpark entstehen soll, wo nach dem Willen einiger politischer Akteure auch Dynamo untergebracht werden sollte. „Dynamo war zu dieser Zeit für viele Politiker das ungeliebte Kind der Stadt“, berichtet Marek. Die Sportgemeinschaft in der Heimat des Stadtrivalen DSC? Das war für viele Fans unvorstellbar und so gründeten eine Handvoll von ihnen im Februar 2003 die Initiative ProRHS.
ProRHS setzte sich von Beginn an für den Erhalt des traditionsreichen Standortes am Großen Garten, die Entwicklung des Areals als Vereinssitz und Spielstätte der SG Dynamo Dresden sowie den Umbau zu einem fangerechten Stadion ein. Ziel war, eine möglichst große Identifikation zu einem Neubau zu schaffen. Mitbegründer waren Michael Walther, André Heider und Jens „Pino“ Mazidowski. Zu ihnen gesellte sich schnell Thomas Blümel. Auch Jens Genschmar wurde bald Unterstützer der Initiative.
Thomas kam 1977 zur Sportgemeinschaft, erlebte eines seiner ersten Spiele im Stadion damals gegen Liverpool. Als sein Sohn 1999 zu den Dynamo-Minis gelangte, wurde er erst Elternrat, 2001 dann Mitglied und von 2003 bis 2008 schließlich Jugendrat. Heute sitzt er im Aufsichtsrat der SGD. Ebenso wurde Jens in den 1970er Jahren Fan und 1988 schließlich förderndes Mitglied. Er reiste Schwarz-Gelb von Bukarest bis Eisenhüttenstadt hinterher und wurde 1999 in den Aufsichtsrat gewählt. Heute ist er der Traditionsbeauftragte im Verein. Da beide auch stadtpolitisch aktiv waren, bildeten sie Anfang der 2000er Jahre ein Scharnier zwischen Stadtrat und Verein. 2003 legte Dynamo Dresden schließlich per Mitgliederentscheid den Vereinssitz Rudolf-Harbig-Stadion an der Lennéstraße 12 fest – ein erster Zwischenerfolg.
2004 gelang der Zweitligaaufstieg. Den Feierlichkeiten auf dem Altmarkt wohnte auch der damalige Oberbürgermeister Ingolf Roßberg bei, der ein verheißungsvolles Versprechen abgab: Dynamo soll ein neues Stadion auf der Lennéstraße bekommen. „So ein Stadionneubau zieht einen riesigen Rattenschwanz an Genehmigungen hinter sich her. Das ist ein komplexes Geflecht. Die Verwaltung hätte das zu seiner Zeit immer blockieren können. Wenn wir mit Ingolf Roßberg da nicht einen Bürgermeister gehabt hätten, der sich dafür stark gemacht hat, hätten wir womöglich heute noch kein neues Stadion“, berichtet Thomas.
Doch mit dem Versprechen gingen die Turbulenzen erst so richtig los. Im Dezember 2004 beschloss der Stadtrat mit knapper Mehrheit den Neubau am alten Standort. Ein Ausschreibungsprozess wurde in die Wege geleitet, der sich im August 2005 auf vier Kandidaten zuspitzte: Hellmich, Hochtief, HBM und Strabag. Es lag nun an Verein und Stadt, die Angebote zu bewerten. Die Firma Hellmich kristallisierte sich von beiden als Favorit heraus und sollte den Zuschlag bekommen. Doch zuvor hatte es einen Beschluss im Stadtrat gegeben, der besagte, dass der Stadionneubau die Stadt nichts kosten dürfe. Hellmich hätte jedoch Geld von der Stadt genommen und ihr das Stadion im Anschluss übergeben. So fiel die Entscheidung auf den drittplatzierten HBM, der das Stadion zwar auf eigene Kosten bauen, im Anschluss aber 30 Jahre selbst betreiben würde, um die Kosten zu deckeln.
Im April 2006 waren die Verhandlungen zwischen Stadt und HBM auf der Zielgeraden, nachdem etliche Klagen rund um den Vergabeprozess abgewendet werden konnten. Baufachlich war nun alles gedeckelt, die Kosten würden 42 Millionen Euro betragen, die Stadionkapazität 32.700 Zuschauerinnen und Zuschauer fassen. Doch im Mai 2006 stieg Dynamo wieder in die Regionalliga ab und war somit nicht mehr in der Lage, die beschlossenen Kosten selbst zu tragen. Eine Bürgschaft der Stadt kam ins Spiel. Die Finanzierungsfrage spitzte sich zu. Aufgrund zu hoher Risiken für die Stadt lehnte der damalige Regierungspräsident den Neubau im Oktober 2006 ab. Jens organisierte im Anschluss einen offenen Brief von Ulf Kirsten an Sachsens Ministerpräsidenten, doch auch dieser erklärte, sich nicht für das Stadion einsetzen zu wollen.
Elefantenrunden wurden zu Verhandlungen einberufen, bei denen auf einmal der Standort Ostragehege wieder ins Spiel kam. ProRHS konnte dies nicht auf sich sitzen lassen und mobilisierte Tausende Dresdnerinnen und Dresdner zu Demonstrationen, an denen neben Fans auch Stadtpolitiker und Prominente teilnahmen. Zwischenzeitlich kontaktierte der Verein sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Initiative wendete sich auf dem Sempernopernball an Franz Beckenbauer, der sich öffentlichkeitswirksam für ein neues Stadion aussprach. „Wenn es in einer Stadtratssitzung um Dynamo ging, war der Besucherbereich brechend voll. Da kamen Hunderte, wo sonst gähnende Leere herrschte“, erinnert sich Thomas und Jens ergänzt: „Es gab seitdem kein Thema, das die Massen so mobilisiert hat.“
Als auch im Dezember 2006 angeblich noch nicht alle Unterlagen abgeben wurden, drohte die Lage zu eskalieren. In einer Großdemonstration zogen Dynamo-Fans im Anschluss an ein Auswärtsspiel zum Regierungspräsidium. „Denen schlotterten die Knie“, schmunzelt Thomas und führt fort: „Danach ging die Sache binnen einiger Wochen über die Bühne.“
Im Januar 2007 fehlten vermeintlich noch Wirtschaftlichkeitsberechnungen, worauf ProRHS 100.000 Aufkleber mit der Aufschrift „Demokratie Jetzt – Stadionneubau!“ produzieren und verteilen ließ. Während der Verein in den Lizenzunterlagen gezwungen war, einen Ausweichstandort anzugeben und Teplice wählte, beschloss der Stadtrat im Februar den Vertrag mit HBM. Nach der Gründung einer Projektgesellschaft unterzeichnete Oberbürgermeister Lutz Vogel am 4. Mai 2007 die Verträge seitens der Stadt, der alte Bürgermeister Roßberg war da schon suspendiert worden. Kurz darauf gab HBM den Rahmenzeitplan für die Bauarbeiten bekannt: Abrissbeginn im November 2007, Fertigstellung im August 2009. Die Sportgemeinschaft startete in ihre letzte Saison im alten Rund.
Den gesamten Text lest Ihr in der September-Ausgabe des DYNAMO-KREISELS. Dort erfahrt Ihr unter anderem, welche Besonderheiten beim Rückbau der legendären „Giraffen“ auftraten, weshalb Ralf Minge sich weigerte, die Stadionverträge zu unterzeichnen und welche Träume Jens, Marek und Thomas noch für das Gelände an der Lennéstraße 12 haben.
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